johanniter 3/2019
Das Wichtigste in unserem Leben sind Entscheidungen. Im Großen wie im Kleinen, bei banalen Details wie bei der Wahl von Partner oder Beruf. Wir müssen erkennen, wie die Dinge liegen. Wir müssen uns bewusst werden, wie wir die Dinge gerne liegen hätten. Und vor allem müssen wir wissen, wie wir vom einen zum anderen kommen. Entscheidungen bestimmen unser Schicksal. Wissen bestimmt unsere Entscheidungen. Und Hören sagen bestimmt unser Wissen. Denn Wissen ist ein schmutziges Geschäft. Egal, wie sicher wir uns sind, wir können falsch liegen, und tun es oft. Den Großteil unseres Wissens haben wir unge- prüft übernommen. Nehmen Sie eine beliebige bekann- te Tatsache – die Erde kreist um die Sonne, Spinat ent- hält viel Eisen – und fragen Sie sich: Stimmt das? Wie kann ich das überprüfen? Sie werden sehr schnell an Ihre Grenzen stoßen. Das liegt aber nicht an Ihnen. Wir Menschen wissen Dinge meist, weil jemand, dem wir vertrauen, sie uns gesagt hat. Nehmen wir den Spinat. In ganze Generationen von Kin- dern wurde grüner Schleim gefüllt, damit das enthaltene Eisen sie so stärkt, wie es schon den Spinatjunkie Popeye stählte. Der sei ja angeblich genau deshalb als Werbefigur für Spinat erfunden worden. Beim Eisen im Spinat gibt es aller- dings eine bekannte Pointe. Als der Eisengehalt vor über hundert Jahren gemessen wurde, sei einem Laboranten beim Aufschreiben das Komma ausge- rutscht. Aus wenig Eisen wurde viel Eisen. Alle schrieben danach die falschen Zah- len voneinander ab, was bedeutet: Ob mit Blubb oder ohne – Spinat stählt außer Comic-Seeleuten gar niemanden. Das war jetzt aber noch nicht die Pointe. In Wahrheit ist nämlich gar kein Komma verrutscht. Vielmehr wollte 1981 der Autor einer humoristischen Kolumne zur Sorgfalt beim Zitie- ren mahnen. Dafür erfand er einfach ein paar lustige Beispiele. Unter anderem den Spinat-Kommarutscher. Ein paar Jahre später wurde seine Erfindung dann in einem ernsthaften Artikel über korrektes wissenschaft- liches Zitieren erwähnt, nun nicht mehr als Scherz, sondern als mahnendes Beispiel gegen ungeprüftes Ab- schreiben. Und wurde von dort aus weitere Jahrzehnte lang ungeprüft abgeschrieben. Die Geschichte des Spi- nats ist eine Geschichte voller Ironie. Es ist schwer, im Weltgewühle nicht den Überblick zu verlieren. Entscheidungen bestimmen über unser Glück und unseren Erfolg. Und sie basieren auf Dingen, die wir anderen ungeprüft glauben müssen. Es gibt kein allgemeines Rezept, wie man da Irrtü- mer vermeiden kann. Aber Misstrauen und Wachsamkeit sind immer eine gute Idee. Egal, wie si- cher wir uns fühlen, wir können uns immer irren. Aber wachsames Vertrauen auf Experten ist ein guter Start. Die können sich zwar ebenso irren wie wir Laien, tun es aber viel seltener. Bleibt noch die Pointe: Popeye warb in Wahrheit für Spinat, weil viel Vitamin A drin ist, nicht wegen des Eisens. Davon enthält Spinat trotzdem sehr viel – aber in für uns schlecht verwertbarer Form. Wissen ist schön, macht aber viel Arbeit. Kai Schreiber Denkanstoß Wissen braucht Vertrauen Kai Schreiber, 47, lebt als Physiker, Neurowissenschaft- ler und Autor in Solingen. In seinem neuen Buch „Wahre Lügen“ untersucht er die Zusammenhänge zwischen unserer Fähigkeit zur Koope- ration und der damit ein- hergehenden Anfälligkeit für Manipulation. Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. Foto: privat, Illustration: Karo Rigaud 23 Unter Freunden johanniter 3/2019
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