johanniter 4/2019
Porträt Auf einer anderen Ebene Anika Niebler ist gehörlos – und gerade deshalb eine besondere und bei Kollegen und Klienten geschätzte Altenpflege-Fach- kraft bei den Johannitern. Am Anfang gab es Bedenken: Eine gehörlose Kollegin? Wie kann sie mit Mitarbeitern kommunizieren und wie mit Klienten? „Wir konnten uns das nur schwer vorstel- len“, sagt Ulrike Blechschmidt, stellvertretende Pflege- dienstleitung der Sozialstation der Johanniter in Hanno- ver. Dann kam Anika Niebler zum Vorstellungsgespräch und fegte mit ihrem aufgeschlossenen Wesen und star- ken Willen alle Vorbehalte vom Tisch. Die Johanniter übernahmen sie erst für ein Prakti- kum und diesen Oktober als examinierte Altenpflege- rin in der ambulanten Pflege. Sie halten zu können, ist für Blechschmidt ein Segen, denn die Klienten fühlen sich von Anika Niebler besonders wahrgenommen: „Sie erreicht Menschen auf einer anderen Ebene. Durch das fehlende Gehör arbeitet sie sehr konzentriert. Sie ist mehr da.“ Und was sagt Anika Niebler? Sie reckt zwei Daumen hoch. In Gebärdensprache heißt das „Glück“. Zwei Daumen hoch – das bedeutet „Glück“ Den passenden Beruf zu finden, ist für gehörlose Men- schen nicht leicht. Viele arbeiten da, wo sie nur wenig kommunizieren müssen. Anika Niebler hat das auch versucht. Nach Praktika in der Schneiderwerkstatt des Hamburger Schauspielhauses und einem Labor für Zahntechnik stand schnell fest: Das ist es nicht. „Nur alleine zu arbeiten“, sagt Anika Niebler und verzieht das Gesicht, „das macht mich nicht glücklich.“ Ein zweiwö- chiges Praktikum in einem Altenheim für Hörgeschädig- te stellte die Weiche, es folgte eine dreijährige Ausbil- dung zur Altenpflegerin an der Gehörlosenfachschule für Soziale Berufe in Rendsburg. „Die Kollegen hier bei den Johannitern haben mich gleich angenommen, ich habe sofort zum Team gehört“, sagt Anika Niebler. Im Gespräch mit anderen Mitarbei- tern kann die 22-Jährige meistens von den Lippen ab- Foto: Jan Klaassen lesen. Wenn es mal hakt, kommen erklärende Gesten oder Zettel und Stift zum Einsatz. Anika Niebler begleite- te eine Kollegin einige Tage auf ihrer Tour, dann fuhr sie auch schon alleine los. Jetzt lernen die Klienten Gebärdensprache Die Klienten reagierten aufgeschlossen. Es dauerte nicht lange, da hatte Anika Niebler ihnen die ersten Gesten in Gebärdensprache beigebracht. Die 78-jähri- ge Christa Bark aus Hannover-Kirchrode beispielsweise begrüßt Anika Niebler frühmorgens lächelnd und mit einer „Guten Morgen“-Geste an der Tür und begleitet sie ins Wohnzimmer zu ihrem Mann Erhard. Anika Nieb- ler kontrolliert seine Medikamenteneinnahme, klebt Pflaster, zieht ihm Kompressionsstrümpfe an. Ganz in Ruhe und sehr zugewandt. Dann verabschiedet sie sich auch schon wieder. Erhard Bark winkt vom Sofa: „Anika ist ein Schatz. Man gibt ja viel im Leben, aber man be- kommt auch zurück – und von ihr ist es nicht wenig.“ So wie das Ehepaar Bark waren auch alle anderen vom Neuzugang begeistert. Denn Anika Niebler beob- achtet sehr genau und kann aus der Mimik, Gestik und Gesamterscheinung eines Menschen Erkenntnisse zie- hen, die Hörenden oft verborgen bleiben. Sie kommu- niziert mit den Augen und Händen, kann auch ohne Sprache viel zum Ausdruck bringen. In den kommen- den zwei Jahren wird Anika Niebler arbeiten und Pra- xiserfahrung sammeln. Fort- und Weiterbildungen wird es danach nur mit der Begleitung eines Dolmetschers geben können. Denn noch sind gehörlose Menschen in der Pflege eine Ausnahme. Anika Niebler wird das aber nicht aufhalten. Sylke Heun 21 Unter Freunden johanniter 4/2019
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