johanniter 4/2019
Denkanstoß Die Stille nach dem Trubel Birgit Sternberg, 45, ist Pfarrerin in der Bundes geschäftsstelle der Johanniter-Unfall-Hilfe. Die passionierte Motorrad- fahrerin legt einen Schwer- punkt darauf, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Foto: Ralf Bauer, Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. Vor ein paar Jahren war ich nach einem Stellenwechsel das erste Mal zu den Weihnachtsfeiertagen nicht bei meiner Familie im Rheinland oder in Berlin, sondern ganz am anderen Ende des Landes, in einer Kirchenge- meinde in der niederschlesischen Oberlausitz. Natürlich gab es auch über die Feiertage viel zu tun: Allein am 24. Dezember waren es vier Gottesdienste. Für die Stunden dazwischen aber hatte ich früher im- mer ein Zuhause und einen Ort, an den ich zurück- kehren und Zeit mit meiner Familie verbringen konn- te. Diesmal nicht. Diesmal sollte meine Familie zu mir kommen, das Festessen mitbringen und mit mir Weih- nachten feiern. Darauf hatte ich mich unglaublich ge- freut. Doch dann kam der Schnee. Und es führte kein Weg hindurch. Binnen Stunden waren die Straßen gesperrt. Die Menschen kamen zu Fuß zur Kirche. So saß ich an Heiligabend alleine da. Von den Diensten und der aus den vielen Advents- und Weihnachtsfeiern mitge brachten Vorfreude auf das kommende Fest war es ein tiefer, schmerzhafter Absturz in ein Gefühl völliger Einsamkeit zwischen den Gottesdiensten. Ich war ganz allein – und ziemlich hungrig. Ich habe dann meine Küche durchforstet und Kart offeln, Würstchen und einige weitere Zutaten für einen improvisierten Kartoffelsalat gefunden. Dann klingelte ich bei einigen Nachbarn, von denen ich nach inzwi- schen fast einem Jahr in der Gemeinde wusste, dass sie auch meistens für sich sind. Mein Tisch war gedeckt. Und die Nachbarn kamen. Mit Salat, Nachtisch, Gedich- ten und einer Flasche Wein. Und so wurde es tatsäch- lich doch noch ein wunderbares und auf seine Art ganz einzigartiges Weihnachtsfest. An jenem Heiligen Abend wurde mir bewusst, wie intensiv wir die Zeit im Advent erleben: All die Advents feiern im Betrieb, für die Seniorengruppe, bei der Dia konie, in den Geschäften, Vereinen und Clubs halten uns am Laufen. Als Pfarrerin bin ich da oft ganz vorne mit dabei und sorge dafür, dass möglichst viele Men- schen eine besinnliche Zeit erleben können. Daran schließt sich für viele nämlich eine durchaus ziemlich ruhige Zeit über die Feiertage an. Und für viele Men- schen ist es ein harter Schnitt, wenn sie dann am Heili- gen Abend nur für sich sind. Wer in den letzten Jahren seinen Partner oder seine Eltern verloren hat, wessen Kinder nicht nur aus dem Haus sind, sondern ganz selbstständig unterwegs sind und eigene Familien ge- gründet haben, der muss zu Weihnachten erst wieder neue Routinen und Rituale für sich schaffen. Da kann es einige Zeit dauern, den passenden Weg zu finden. Sich mit der neuen Situation anzufreunden, sich selbst auf den Weg zu anderen zu machen oder eben andere einzuladen, denen es genauso geht. Dass es Menschen gibt, die dankbar auf so einen Anstoß war- ten, durfte ich bei meinem besonderen Weihnachtsfest selbst erfahren. Birgit Sternberg 23 Unter Freunden johanniter 4/2019
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