johanniter 1/2020

Vertrauen ist in der Krise, das hören wir oft. Wir haben kein Vertrauen mehr in die Politik, die Medien, die Me­ dizin. Auch die Kirchen leiden, so sagt man uns, an ei­ nem Schwund des Vertrauens. Es ist schwer, sich dieser Diagnose zu entziehen, eine Umfrage nach der anderen scheint sie zu bestätigen. Am schlimmsten wiegt viel­ leicht der Verlust des Vertrauens in unsere Mitmen­ schen. Trotz dieser doch recht düsteren Diagnose möchte ich einmal eine andere, viel seltenere Frage stellen: Wollen wir eigentlich anderen vertrauen? Das klingt merkwürdig, denn wenn wir den Verlust oder die Krise des Vertrau­ ens beklagen, legen wir doch nahe, dass Vertrauen etwas Gutes ist, dass wir unter seinem Verlust leiden. Wir wol­ len anderen vertrauen, und wenn es nicht gelingt, dann ist das schlecht, dann müssen wir vorsichtiger sein, müs­ sen wachsam sein oder geben bestimmte Ziele einfach auf. Wie kann man da an unserer Bereitschaft, anderen vertrauensvoll zu begegnen, zweifeln? Ich habe angefangen, mir diese Frage zu stellen, als ich Artikel über sogenannte Helikoptereltern las, also Eltern, die ihre Kinder kaum aus den Augen lassen und jeden Schritt ihrer Kinder begleiten. In meiner Kindheit war es üblich, dass ich mit meinen Freunden stunden­ Denkanstoß Einfach mehr Vertrauen wagen Martin Hartmann, 52, ist Professor für praktische Philosophie an der Univer- sität Luzern und beschäftigt sich bereits seit Jahren mit gesellschaftlichen Problemen. Sein neues Buch „Vertrauen – Die unsichtbare Macht“ (S. Fischer) lädt zu einem besseren Miteinander ein. Foto: privat; Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. lang unbeobachtet von meinen Eltern auf der Straße war. Wir spielten auf öffentlichen Spielplätzen, aber auch im nahen Wald oder auf weiter entfernten Schul­ höfen. Die Eltern hatten eine grobe Vorstellung dieser Orte und sprachen manche Warnung aus. Mehr aber auch nicht. Wenn ich meine Mutter heute gelegentlich frage, ob das nicht ziemlich verantwortungslos gewesen sei, lacht sie und sagt sehr deutlich: „Wir haben einfach darauf vertraut, dass ihr keinen allzu großen Unsinn macht.“ Spreche ich mit Eltern meiner Generation über diese Zeit, dann überwiegen Kopfschütteln und ein vorwurfs­ voller Unglaube: „Wie sorglos und verrückt waren die bloß?“ Es hat sich also etwas geändert. Wir haben offenbar Angst vor der Verletzlichkeit, die mit Vertrauen ein­ hergeht, und streben nach größerer Kontrolle unserer Lebensumstände. Sucht man nach weiteren Indizien für diesen Befund, fallen einem ziemlich viele Dinge auf, die dazu passen könnten. Könnte nicht sogar die Beliebtheit besonders großer Fahrzeuge, der so­ genannten SUVs, ihre Quelle in der Sehnsucht nach Unverletzlichkeit haben, nach Kontrolle und Übersicht? Man will nicht mehr darauf vertrauen, dass andere vernünftig fahren. Vertrauen macht verletz­ lich; enttäuschtes Vertrauen schmerzt. Stimmt mein Befund, dann fürchten wir uns zuneh­ mend vor der Möglichkeit dieser Verletzlichkeit und weichen ihr aus. Das ist auch eine Krise des Ver­ trauens. Aber eine, die nicht unbe­ dingt mit anderen zu tun hat, mit ihrer angeblichen Unaufrichtigkeit, Rück­ sichtslosigkeit oder Verlogenheit. Sie hat mit uns zu tun, mit unserer schwin­ denden Bereitschaft, anderen Vertrauen zu schenken. Wir werden nicht umhinkommen, auch hier anzusetzen, wenn wir die Lage des Ver­ trauens verbessern wollen. Martin Hartmann 23 Unter Freunden johanniter 1/2020

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