johanniter 2/2020
Hin und wieder bin ich ehrenamtlich mit Studierenden der Musik unterwegs und erzähle ihnen, was sie erwar- tet, wenn sie in einem Altersheim Konzerte geben: „Da sitzt kein alter Mensch, da sitzt das ganze Leben. Stellt euch das vor wie bei einem Baum: Durchgesägt ist alles sichtbar.“ Ich schockiere die jungen Leute, wenn ich erkläre, dass dort genau die Generation lebt, die ihr Handy er- funden hat. Dass es dieselbe Generation ist, die das deutsche Wirtschaftswunder erarbeitet hat, von dem wir heute alle profitieren. Und dass dies auch die Generati- on ist, die – wenigstens als Zuschauer – am 20. Juli 1969 mit zum Mond geflogen ist. Dann sehe ich in ihren Augen ungläubiges Staunen. Diese jungen Leute waren vorher auch liebevoll zu den Alten – keine Frage. Sie hatten sich nur nie Gedanken darüber gemacht, was Lebensleistung ist. Das Bewusst- sein ist in allen Generationen verloren gegangen – auch bei uns Alten –, Alter ist bei mir längst ein Adelstitel. Auch wir sind uns nicht bewusst, dass Lebensleistung einen Wert darstellt. Wir klappen das Buch zu, wenn wir einen Rollator nutzen. „Nun brauch ich gar nichts mehr anzufangen, jetzt bin ich richtig alt“, schwirrt durch unsere Gedanken. In den Köpfen führt der Treppenlift direkt in den Sarg. Nein, es sind alles Helferlein und sonst nichts. Der Treppenlift ist wie ein Ferrari – dieser fährt von A nach B und der Treppenlift von oben nach unten. Ende. Wann in unserem Leben dachten wir so? Haben wir rumgejammert: „Ich schaffe es nicht mehr, die Wäsche mit der Hand zu waschen, leider muss ich mir eine Waschmaschine besorgen.“ Wir hatten schon immer Helferlein in unserem Leben – nur im Alter scheint das was mit unserer Würde zu tun zu haben. Quatschkram. Wir bleiben die, die wir immer schon waren. Kei- ner bewertete Helmut Schmidt anders, als er im Roll- stuhl saß. Er war weiterhin ein gefragter Staatsmann. Es sind unsere eigenen Bilder im Kopf, die uns eingrenzen. Heute ist ein toller Tag, um diese aufs Freudenfeuer zu werfen. Denn die Zeit von 60 bis 90 Jahren ist genauso lang wie die Zeit von 30 bis 60. Wenn wir in dieser Lebens- phase die gleiche Intensität und Lebensfreude wollen, wie wir sie mit 30 Jahren so toll fanden, dann ist Alter ein Start-up-Unternehmen. Wir alle haben Krisen und Niederlagen erlebt, durch- litten und daraus gelernt. Das ist unser Startkapital und unser emotionales Grundeinkommen. Das kann uns keiner nehmen. Jetzt ist die Zeit, unsere Träume zu ver- wirklichen, für die wir in jungen Jahren keine Zeit hat- ten. Wo möchten Sie die Welt verbessern? Erwarten Sie das Beste vom Leben, es steht Ihnen zu! „Alt genug, um mich jung zu fühlen“ habe ich mein aktuelles Buch betitelt. Wenn Jungsein bedeutet, un- beschwert, begeisterungsfähig, mutig und neugierig zu sein – dann ist dafür heute die beste Zeit. Greta Silver Denkanstoß Unsere Zeit ist jetzt Greta Silver, 72, ist Model, Autorin und macht, was sonst eigentlich eher ihre Enkel tun: Auf YouTube und in Podcasts veröffentlicht sie ihre Meinung. Ihr jüngstes Buch „Alt genug, um mich jung zu fühlen“ (Rowohlt) ist ein Mutmacher für ihre Altersgenossen. Foto: Lotta-Fotografie.de, Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. 26 Unter Freunden johanniter 2/2020
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