Johanniter Dezember/21

„Sind Sie eigentlich schon im neuen Amt angekom - men?“ – Diese Frage wird mir nun gut ein halbes Jahr nach der Wahl zur Präses der Synode der Evan - gelischen Kirche in Deutschland oft gestellt. Einfach so kommt mir ein „Ja“ als Antwort nicht über die Lippen. Formal kommt man sehr schnell in diesem Amt an – noch während der laufenden Tagung. An - kommen ist aber eben nicht nur ein rein formaler Akt, sondern vor allem ein emotionaler Prozess, der nicht über Nacht funktionieren kann. Nach der Wahl hat für mich eine Phase der Refle - xion begonnen: Welche Erwartungen werden an mich gestellt? Was muss erreicht werden? Welche Ziele setze ich mir? Braucht es einen Masterplan – gibt es vielleicht schon einen? Fragen über Fragen, und nach 100 Tagen im Amt war mir klar: Wie auch immer die Antworten auf diese Fragen lauten, ich muss raus. Denn um Erwartungen zu klären, muss man zuhören, wahrnehmen, kennenlernen. Man muss sich auf den Weg machen: zu den Menschen, raus aus der eigenen Blase, an ungewöhnliche Orte, zu spannenden Projekten und vor allem zu den Macherinnen und Machern hinter den Projekten. Auf dem Weg / Ich hab mich also auf den Weg ge- macht, auf eine #Präsestour ohne vorher definiertes Ziel, 31 Tage kreuz und quer durch Deutschland, mit Rucksack und Bahn. Raus aus allem „Ankommen in schon Bestehendem“, einfach mal unterwegs sein, hoffnungsvoll, risikobereit und auf der Suche. Mit vielen Fragen und wenigen Antworten im Gepäck. Jeden Tag neue Begegnungen und immer wieder die Möglichkeit, in die Lebenswelt von anderen Men - schen einzutauchen. Jeden Tag andere spannende Orte und Projekte, mutige Menschen, ein neuer Schlafplatz. Ich war unterwegs, um anzukommen. Einen Monat lang jeden Tag in einer neuen Herberge, jeden Tag den Rucksack ein- und auspacken, jeden Tag dankbar für die Erlebnisse, die ich mitnehmen konnte – jeden Tag routinierter. Bei all den Erfah - rungen stellte sich bald nicht mehr die Frage nach dem Zu-Hause-Sein, nach Heimat, nach Ankommen, sondern es fanden sich Antworten bei den Men - schen: freundliche, neugierige, fragende, hoffen - de Menschen, die wie ich mit ihrem beständigen Ankommen bei sich selbst und bei Gott beschäftigt waren. Aufbrechen als Ziel / „Sind Sie eigentlich schon im neuen Amt angekommen?“, werde ich gefragt. Und die Antwort lautet: Ja, ich kam an, ich komme an, ich werde immer wieder neu ankommen. Und dafür braucht es nicht den perfekten Masterplan, aber immer wieder die Bereitschaft, aufzubrechen, Menschen zu begegnen und mit ihnen gemeinsam weiter auf die Suche zu gehen. Vielleicht ist diese Einstellung ja die beste Art, sich immer wieder neu auf die Ankunft jenes einen vorzubereiten, der keineswegs selbstverständlich bei uns ein Zuhause findet. / Anna-Nicole Heinrich Foto: Peter Bongard / Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. Anna-Nicole Heinrich ist Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Mit ihren 25 Jah - ren ist die Philosophie-Studen - tin an der Universität Regens- burg das jüngste Oberhaupt des höchsten deutschen Kirchenparlaments. Denkanstoß Unterwegs, um anzukommen. Johanniter / Dezember 2021 / Unter Freunden 23

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