Johanniter Juli/22
Das Leben ist hart, und irgendetwas geht immer schief. Wir müssen uns das Recht zurückerobern, denken zu dürfen, dass einiges einfach schlecht ist – auch wenn uns ein ganzes Buchgenre aus pseudo- wissenschaftlich optimistischer Lebensberatung vom Gegenteil überzeugen will. Ein Buchtitel aus dieser Gute-Laune-Welt, in der man aus allem etwas lernen soll, ist: „Wie ich den Burn-out überlebte – und was ich daraus gelernt habe“. Viel ehrlicher wäre: „Ich bin immer noch extrem ausgebrannt – und es ist ein endloser Albtraum“. Statt „Glückliche Kängurus springen höher“ (auch diesen Buchtitel gibt es wirk - lich) lieber „Kängurus sind eine Plage in Australien, deshalb werden sie regelmäßig abgeschossen, und je höher sie springen, desto eher werden sie getroffen und desto schneller sind sie tot“. Erst neulich las ich: „Aus Sternenstaub erschaffen liegt es in deiner Natur, zu leuchten“. Ich möchte lieber nicht leuchten. Zu viel Druck / Der Zwang, immer positiv sein zu müssen, nervt nicht nur, er bindet auch Kräfte und baut einen sinnlosen Erwartungsdruck auf. Vor allem verlagert er gesellschaftliche Probleme auf eine individuelle Ebene und macht den Einzelnen für sein Schicksal komplett allein verantwortlich. Mit dieser abstrusen Schlussfolgerung wird sogar Krebspatien- ten immer wieder die eigene Verantwortung an ihrer Erkrankung unterstellt. Ihre negative Einstellung zum Leben habe eben dazu geführt, dass sie überhaupt Krebs bekommen hätten! Der irrsinnige Glaube, dass Krebs in irgendeiner Weise psychisch bedingt sei, hält sich hartnäckig. So glaubten 61 Prozent der Be - fragten in Deutschland, seelische Belastungen und Stress könnten Krebs auslösen. Das ist wissenschaft - lich aber überhaupt nicht haltbar. Obwohl wir unser Schicksal oft nicht in der Hand ha- ben, liest man überall: Glück ist eine Entscheidung! Foto: Juliane Marie Schreiber/Piper Verlag / Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder Juliane Marie Schreiber ist Politologin und Autorin und schreibt unter anderem für das „SZ Magazin“ . In ihrem Buch „Ich möchte lieber nicht“ wehrt sie sich gegen den Zwang zur guten Laune (siehe auch Ver- losung auf Seite 26). Denkanstoß Weniger leuchten, mehr schimpfen. Denk positiv! Sei die beste Version deines Selbst! Wer diesem Zwang des Positiven folgt, will oft alle negativen Gemütszustände eliminieren, übersieht dabei aber ihre wichtige Funktion. Schmerz ist ein wirkungsvoller Schutzmechanismus des Körpers und Wut wirkt als Initialzündung für gemeinschaft - liche politische Handlungen. Negative Emotionen helfen uns beim Überleben und sind auch der Treib - stoff der Zivilisation. Doch wir sind besessen davon, für Niederlagen dankbar zu sein und an ihnen zu wachsen – dabei kann man nicht aus jedem Schnup - fen etwas Produktives lernen. Lindert Schmerzen / Statt Leid und Scheitern zu vergolden und jede Verantwortung bei uns zu suchen, sollten wir Negatives manchmal als Teil unserer Existenz auffassen. Statt krampfhaft positiv zu denken, sollten wir lieber mehr schimpfen! Denn das lindert nachweislich Schmerzen, ist befreiend und hilft, die Bürden des Lebens besser zu tragen. Wer zürnt und flucht, rebelliert gegen den Zwang, sich ständig zu verstellen. Mit anderen Worten: Schimpfen ist der feine Ausdruck gelebter Autono - mie. / Juliane Marie Schreiber Johanniter / Juli 2022 / Unter Freunden 23
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