Johanniter September/22
Ich wuchs im niederbayerischen Inntal am Rand eines kleinen Dorfes nur wenige hundert Meter vom Fluss entfernt auf. Der Inn bildet dort die Grenze zu Österreich. Schon als Fünfzehnjähriger führte ich umfangreiche ornithologische Untersuchungen durch. Die österreichische Innseite war dafür inte - ressanter und ergiebiger. Mit dem Fahrrad fuhr ich häufig die fünf Kilometer zum nächsten offiziellen Grenzübergang, um drüben sieben Kilometer zu - rückzuradeln und dann nach den Wasservögeln zu schauen, die sich zu Tausenden auf dem unteren Inn eingefunden hatten. Ein langer Umweg. Ein öster - reichischer Grenzpolizist riet mir, eine Anlandege - nehmigung zu beantragen. Dann könnte ich mit dem Boot auf kurzem Weg zu den österreichischen Inseln fahren. Auf ein simples Anschreiben an die lokale Bezirksverwaltung erhielt ich umgehend eine solche. Das war großartig. Ich konnte nun einfach über den Fluss rudern. Über eine Grenze, die nicht zu sehen, aber dennoch offiziell vorhanden war. Hier geht es nicht weiter! / Eines Tages erwartete mich bei der Rückfahrt ein deutscher Grenzpolizist. Ich zeigte ihm die Genehmigung. Seine Reaktion war niederschmetternd: „Du hast aber keine Rücklande - genehmigung!“ Auf meine Frage, wo ich denn eine deutsche Genehmigung bekommen könnte, runzelte er die Stirn und meinte: „Beim Bundesinnenminis - terium in Bonn, aber man wird sie dir nicht geben.“ Er verwarnte mich eindringlich, bloß nicht wieder hinüberzufahren. Wenige Jahre später, als Student und dann als junger Wissenschaftler, wechselte ich sehr oft über Grenzen, nicht nur nach Österreich, wo bald nicht Foto: Miki Sakamoto-Reichholf / Illustration: Karo Rigaud Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder Josef H. Reichholf 77, ist Biologe und Autor. In seinem neuen Buch „Über Grenzen“ (Weissbooks 2022) behandelt er die natürlichen Grundlagen von Abgrenzun - gen, verflochten mit vielen Er - lebnissen aus seinem eigenen Leben. Denkanstoß Über Grenzen hinweg. mehr kontrolliert wurde, sondern in Südamerika, Afrika, und auch über die damals schlimmste Grenze überhaupt in die DDR. Die Südamerikaner waren stets sehr freundlich. Manche Grenzbeamten Brasili - ens, Paraguays oder Boliviens fragten lediglich, war - um ich ins Nachbarland wollte, das doch viel rück - ständiger, gefährlicher und überhaupt anders sei. Im Lauf der Zeit sammelten sich skurrile Erlebnisse an. Manche wirken gegenwärtig kaum noch glaubhaft. Was mich zunehmend beschäftigte, war die Frage, warum es die Grenzen gibt. Kann man nicht ohne sie auskommen? Könnten nicht zwei Großstaaten in Südamerika existieren mit Spanisch und Portugie - sisch als Sprachen? Als Biologe erkannte ich, dass ein Leben ohne Grenzen problematisch, in vieler - lei Hinsicht unmöglich wäre. Die Natur selbst setzt Grenzen; knallhart! Lebendiges muss sich von der Umwelt abgrenzen. Individualität beruht auf Eigen - ständigkeit. Völker und Staaten ziehen Grenzen zu „den Anderen”. Hinreichend durchlässig müssen sie aber bleiben. Denn alles Leben, auch das politische, ist auf Abgrenzung mit Austausch angewiesen. Zu glauben, die heutigen Grenzen sollten ewig Bestand haben, ist naiv. Sie wurden mit Gewalt gezogen und sind vielfach unmenschlich. / Josef H. Reichholf Johanniter / September 2022 / Unter Freunden 23
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