Johanniter Juni 2024

Die allermeisten meiner Freunde und Bekannten blicken eher düster in die Zukunft. Klimawandel, Wirtschaftskrise, Umweltzerstörung, Kriegsge - fahr –und bei jedem Blick in die Nachrichten wird die Lage düsterer. Dafür wird die eigene Vergangen - heit immer schöner, je weiter sie zurückliegt: „Das war toll damals, weißt Du noch?“ Die Energie und die Zuversicht, der gemeinsame Optimismus und die Unterhaltungskultur ohnehin, all die coole Literatur von damals, die Filme und die Musik. Geht mir auch so. 1980 war ich 18 Jahre alt, des - wegen bin ich Zeitzeuge. Aber gleichzeitig bin ich Historiker, also berufsmäßig für die Vergangenheit zuständig. Wie war das damals genau, vor dem Mauerfall, in der beschaulichen guten alten Zeit? Die Lust am Ende / Der Weltuntergang zum Beispiel wurde 1979 Pop. Szenarien von nuklearem Ernstfall und Umweltkatastrophen stürmten die Hitparaden der Unterhaltungsindustrie, und die gewalttätigen De - monstrationen der radikalisierten Alternativbewegung prägten nach 1982 jahrelang die Schlagzeilen der Me - dien. Besorgte Innenminister warnten vor Terrorsym - pathisanten, die sich in besetzten Häusern in Ham - burg und Berlin und auf den Kundgebungen gegen die nukleare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf tummelten. Und besorgte Publizisten und Professoren konstatierten die wachsende Faszination der jungen Generation durch „nationale Identität“ und rechtsex­ treme Slogans. In der Alternativbewegung wieder - um – da war ich dabei – war man überzeugt, dass der große Wumms nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Und das war natürlich die Schuld der anderen, des „Systems“. Angstlust und die Tendenz, sich selbst zum Opfer zu stilisieren, ließen sich wun - derbar mit lautstarker Bekundung der eigenen Gefüh - le verbinden: Wer stärker fühlte, hatte recht. Vergangenheit ist kein Idyll / Nur dass es dann eben ziemlich anders weiterging, wie wir heute wis - sen. Aber daran erkennt man echte Vergangenheit: Sie ist kein Idyll, sondern im Nachhinein ziemlich bizarr. Und sie provoziert jene Frage, die alle stellen, die hinterher aufräumen, nachdem man weiß, wie das alles weitergegangen ist und wie die ungeplan - ten Konsequenzen ausgesehen haben: „Was haben die sich dabei eigentlich gedacht, damals?“ Nicht viel, fürchte ich. Dafür – und daran erinnere ich mich sehr genau – ganz viel gefühlt. Fühlen, um recht zu behalten. Fühlen, um in Sicherheit zu sein und gleichzeitig den Schrecken genießen zu können. Und Fühlen als Erlaubnis, darüber laut Auskunft zu geben. Kennen wir. Dafür gibt es ein Wort: Nostalgie. Auch das ist ein Gefühl, und ansteckend ist es auch, so wie Angstlust und Selbstdarstellung als Opfer. Aber mit der Wirklichkeit von früher sollte man es besser nicht verwechseln. /Valentin Groebner Valentin Groebner, 62, ist Professor für Geschich - te an der Universität Luzern und forscht wie in seinem neuen Buch „Gefühlskino. Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung“ gerne über das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart (siehe auch die Verlosung auf Seite 26). Denkanstoß Wie gut war sie, die alte Zeit? Foto: Franca Pedrazzetti / Illustration: raufeld/Martin Rümmele Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. 23 Johanniter / Juni 2024 / Unter Freunden

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