Johanniter Dezember 2024

Meine Eltern kamen vor meiner Geburt nach Deutschland, sie wollten zuerst gar nicht bleiben, sondern waren auf ihrem Auswanderungsweg nach England oder in die USA. Dann verliebten sie sich in die Menschen, fanden Freunde, wurden in Familien aufgenommen, mochten das Land, schlugen Wur - zeln, blieben. Ein halbes Jahrhundert später bin ich mit dem Fahrrad durch dieses Land gefahren, das sie sich ausgesucht haben. Knapp 3.000 Kilometer. Ich habe Dutzende Städte gesehen, zig Dörfer be - sucht und Hunderte Menschen gesprochen. Fünfe grade sein lassen / Ich finde, Deutschland ist eines der besten, lebenswertesten, vielfältigsten Länder, mit bisweilen verschlossenen, manchmal schroffen, tatsächlich aber auch mit den freund - lichsten, bodenständigsten Menschen, die ich kenne. Die meisten freuen sich über ein Gespräch und öff- nen sich einem gegenüber, wenn man sich selbst of - fen und aufmerksam zeigt. Sie freuen sich durchaus über humorvolle Bemerkungen, auch wenn Humor nicht unbedingt die größte Stärke der Deutschen ist. Und sie nehmen einem im Gespräch von Ange - sicht zu Angesicht ein falsches Wort, einen blöden Witz, eine starke Zuspitzung nicht krumm – anders als im Netz, in der Politik, in den Medien, wo Wörter bisweilen auf unerbittliche Weise auf die Goldwaage gelegt und einem auch noch Jahre später nachge- tragen werden. Im wahren Leben lassen die Men - schen gerne mal fünfe gerade sein. Es geht uns, das ist mein Eindruck nach meiner Deutschlandtour, gesamtgesellschaftlich in allen we - sentlichen Lebensbereichen gut. Jedenfalls im Ver - gleich zu den meisten anderen Gesellschaften dieser Welt. Egal ob Gesundheitssystem, Bildung, Sicher - heit, Wohnen, Verkehrsinfrastruktur – im Großen und Ganzen funktionieren sie ordentlich. Bei genau - erem Hinsehen erzählen einem die Menschen natür- lich von vielen Problemen, von steigenden Preisen Foto: Peter Rigaud / Illustration: Martin Rümmele Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder. Hasnain Kazim 50, ist Journalist und Autor. Der gebürtige Oldenburger und Sohn indisch-pakistani- scher Einwanderer lebt in Wien und ist für seinen politischen Reisebericht „Deutschlandtour“ mit dem Fahrrad durchs ganze Land gefahren. Siehe auch Verlosung auf Seite 26. Denkanstoß Unsere große Vielfalt pflegen. und fehlendem Personal. Ich finde das richtig. Man muss Probleme und Herausforderungen benennen, nur Dinge, die man identifiziert und kritisiert, kann man auch verbessern. Vieles ist schützenswert / Mein Eindruck aus vielen Gesprächen ist aber auch, dass die Menschen in Deutschland nicht mehr zu schätzen wissen, was wir haben, wie gut es uns letztlich geht und wie schützenswert vieles ist. Jeder scheint sich als Opfer zu sehen, als Benachteiligter, und dann wird ge - schimpft und gepöbelt. Dieses oft wütende, fast immer humorlose Miteinander tut unserer Gesell- schaft nicht nur nicht gut, es spaltet und löst kein einziges Problem. Im Gegenteil, es führt zu verhär - teten Fronten und lässt konstruktive Lösungen noch weiter wegrücken. Unsere Art zu leben ist, glücklicherweise, sehr viel - fältig – die einen so, die anderen so, wieder andere noch ganz anders. Es ist an uns, das, was und wie wir sein wollen, zu tun, zu fördern, zu pflegen, an - statt nur das, was wir nicht wollen, zu bekämpfen, zu verdammen, zu dämonisieren. Auf meiner Deutschlandtour habe ich gelernt: Es ist möglich. Deshalb bin ich, auch wenn es raue Zeiten sind, zuversichtlich. / Hasnain Kazim Johanniter / Dezember 2024 / Unter Freunden 23

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