Johanniter Juni 2025
Was für eine starke, eigenwillige Frau, meine Mutter! Noch mit 90 Jahren war sie so voller Energie, dass sie von persönlicher Unterstützung und Pflegehilfs mitteln nichts wissen wollte. Einen Rollator herneh men? „Dann hält mich jeder für ein altes Weib!“ Eine Vorsorgevollmacht unterschreiben? „Nanana, ich lasse mich nicht in ein Heim stecken!“ Die Hörgeräte einsetzen? „Dann fallen sie raus und ich verliere sie!“ Von Kämpfen geprägt / Ihren lebenslustigen Trotz verdankte sie ohne Frage ihrem Lebensschicksal. Nach dem Krieg war sie mit der Familie aus dem Sudetenland vertrieben worden; im Münchner Miets häuschen wurde ihr Mann früh zum langjährigen Pflegefall; und nach dessen Tod zog ihr Sohn, das einzige heiß ersehnte Kind – also ich –, auch noch nach Berlin. Unsere Mutter-Sohn-Beziehung war immer unglaublich eng. Vielleicht war sie auch des halb, als das Alter der Pflegebedürftigkeit einzog, von vielerlei Kämpfen geprägt. „Du musst morgen sofort kommen! Ich habe nichts zu essen.“ – „Ich war doch gerade erst bei dir. Morgen muss ich arbei ten.“ – „Ich verhungere aber hier. Du musst für mich einkaufen!“ – „Dann bestellen wir Essen auf Rädern. Da kriegst du jeden Tag eine Mahlzeit.“ – „Nein! Das schmeckt mir nicht. Ich will mir selbst was kochen.“ – „Aber ich kann doch nicht jedes Wochenende für dich einkaufen.“ – „Ich habe dich auch gefüttert, als du ein Baby warst. Das ist deine Pflicht!“ Haben wir als Kinder die Pflicht, uns um unsere alten Eltern zu kümmern? Oder schulden wir ihnen nichts für unsere Geburt – und brauchen wir ihnen nur freiwillig zu helfen, aus Liebe? Über diese Frage und über die Pflegejahre, in denen wir uns in alter Liebe zankten, habe ich einen Roman geschrieben: „Manchmal ist es sogar lustig – Meine Mutter, ihr langes Leben und ich“. Denn tatsächlich waren die vielen Scharmützel, die wir führten, oft auch sehr lustig. Wenn ich nun aus dem Buch lese, lachen die Zuhörer schallend, weil sie sich in so vielen Situ ationen mit ihren eigenen Eltern wiedererkennen. Daraus entstehen automatisch Gespräche, und diese halte ich für das Wichtigste für uns alle, wenn wir mit der nicht immer leichten Pflegesituation klar kommen wollen. In der Pflegepflicht? / Vor einem Monat, kurz nach Erscheinen meines Romans, ist meine Mutter im Al ter von 94 Jahren verstorben. Tatsächlich glaube ich nicht, dass sie mich zu Recht „in die Pflegepflicht“ nehmen wollte. Aber ich bin ihr unglaublich dank bar für alles, was sie für mich getan hat. Auch für ihre Widerspenstigkeit und die Scharmützel, die wir miteinander austrugen. Denn ohne diese wäre sie niemals so alt geworden – und ich hätte nicht be griffen, worauf es im Leben ankommt: Wir müssen mit den Widerständen ringen, die wir von zu Hause mitbekommen haben, denn nur so werden wir zu denjenigen, die wir sind. Das Ganze sollten wir immer mit einem lachenden Auge tun – am besten gemeinsam mit den Eltern und den Menschen, die wir lieben. / Norbert Kron Foto: Kron/Lehmhaus Illustration: raufeld/Martin Rümmele Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder Norbert Kron hat in München Literaturwis senschaft studiert und lebt als Schriftsteller und Kulturjourna list für mehrere Fernsehforma te in Berlin. Sein neues Buch „Manchmal ist es sogar lustig“ ist bei Galiani erschienen (siehe auch Verlosung auf Seite 30). Denkanstoß Scharmützel der Liebe. Johanniter / Juni 2025 / Unter Freunden 29
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