Als damals mein Vater verstarb, hat meine Mutter ein
Jahr lang Schwarz getragen. Sie hatte schwarze Sachen
für den Sommer, für den Winter und sogar schwarze
Handtaschen. Im Haus war für lange Zeit das Radio
ausgestellt, es herrschte eine ernste Atmosphäre und
das Gedenken an den Verstorbenen war allgegenwärtig.
Die Trauer war in dieser Zeit sichtbar, fast spürbar,
sie hatte ihren Raum bekommen.
Vor kurzer Zeit sprach ich mit einem Freund, dessen
Schwiegermutter im fortgeschrittenen Alter gerade
verstorben war. Nach der Beerdigung fuhr er mit seiner
Frau an die Ostsee, um sich abzulenken. Die Ehefrau
sollte auf andere Gedanken kommen. Die Trauer, die
bei ihr immer wieder durchbrach, sollte nicht überhand
nehmen. Trauer und Schmerz als unangenehme
Gefühle sollten nicht das weitere Leben bestimmen.
Aber funktioniert das so? Lässt sich Trauer ein
fach verbieten? Abgewehrte Gefühle – so sagte schon
der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, – gehen
in den Untergrund und wirken dort, wenn sie nicht
ihren Platz im Alltag bekommen.
In meiner therapeutischen Praxis werde ich immer
wieder mit Menschen konfrontiert, die sich
beschweren, kurze Zeit nach dem Verlust
eines geliebten Menschen noch nicht
wieder „in die Spur“ gekommen zu
sein, ihren Alltag noch nicht wie
vorher bewältigen zu können.
Oft wundere ich mich
darüber, welch hohen An
spruch diese Menschen an
sich selbst haben. Wie sie
von sich erwarten, dass
ihre Trauer – wie eine
unangenehme Verdau
ungsstörung – wieder
„weggemacht“ werden
soll. Unsere heutige Ge
sellschaft scheint nicht
mehr in der Lage, den Menschen einen Raum für ihre
Trauer zu geben. Die Schlagzahl ist zu hoch geworden,
der Takt zu schnell. Wenn alle auf der Autobahn 150
Kilometer die Stunde fahren, was ist dann mit dem
Menschen, der nur mit 80 vorankommt? Ist das Arbeits
umfeld, der soziale Rahmen noch fähig, einen Men
schen mitzutragen, der durch seine Trauer vielleicht
nicht hundertprozentig leistungsfähig ist?
Trauer ist jedoch die normale menschliche Reaktion
auf Verlust. Sie ist der Preis, den wir zahlen müssen,
um Gefühle wie tiefe Liebe empfinden zu können. Und
sie ist begleitet von einer großen Bedrücktheit, Freud
losigkeit, Mutlosigkeit und depressiven Verstimmungen.
Wie stark die Trauer erlebt und nach außen getragen
wird, hängt entscheidend vom jeweiligen kulturellen
und religiösen Kontext ab. Oft braucht es bis zu sechs
Monate oder bis zum ersten Jahrestag des Verlustes, dass
unsere Trauer verarbeitet und zu einem weniger
intensiven Gefühl werden kann.
Wir können nicht von uns erwarten, mal eben
schnell ein neues Leben ohne die geliebte Person
zu entwickeln. Das Leben kann und darf nicht weiterge
hen, als wäre nichts geschehen. Die Trauer muss
einen Ort bekommen, an dem sie sein
darf. Wenn uns das nicht gelingt,
laufen wir Gefahr, an ernsthaf
ten, chronischen depressiven
Störungen zu erkranken.
Gefühle wie Wertlosigkeit,
andauernde Selbstzwei
fel oder sogar Selbst
mordgedanken können
die Folge sein. Also
lassen wir der Trauer
ihren Raum. Denn
nur so wird die Seele
wieder gesund.
Dr. Karsten Christoph
Lindenstromberg
Denkanstoß
Kein Raum
mehr für Trauer?
Dr. Karsten Christoph
Lindenstromberg
52, ist Notarzt sowie ärztlicher
Psycho- und Traumatherapeut
in Hamburg. Im Auslandsbe-
reich und in der Katastrophen-
vorsorge der Johanniter-
Unfall-Hilfe engagiert er sich
als medizinischer Berater.
Illustration: Karo Rigaud
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johanniter 3/2013
Unter Freunden