Previous Page  23 / 32 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 23 / 32 Next Page
Page Background

Am Ende sind es die vielen – meist kleinen – Details, die

einem helfen, mit großen Herausforderungen fertig-

zuwerden. So geht es mir als Leiter der Erstaufnahme-

einrichtung für Flüchtlinge des Landes Baden-Württem-

berg in meiner Heimatstadt Ellwangen. Szenen einer

unglaublichen Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft,

wie am Münchner Hauptbahnhof im Sommer 2015, erle-

ben wir in unserer Einrichtung seit mehr als zwei Jahren.

Auch wenn die Herausforderungen heute ganz andere

sind als in der Zeit, in der wir statt, wie geplant, 1.000 fast

5.000 Geflüchtete zu versorgen hatten.

Es waren die Kollegen, für die es selbstverständlich

war, freiwillig Überstunden zu leisten, um mit der Ent-

wicklung Schritt zu halten. Es war der Küchenchef, der

einem bei einem Bewohnerstand von 3.000 Personen

versicherte, dass er auch 5.000 satt bekommen werde.

Es waren aber auch die Stadt mit ihren Menschen

und Organisationen, die immer da waren, wenn es nicht

mehr weiterging. Und es waren die christlichen Kir-

chen in der Stadt, die sich öffentlich und vernehmbar

zur christlichen und sozialen Pflicht der Nächstenliebe

für diese Ärmsten der Armen bekannten. Und natürlich

die bis zu 300 Ehrenamtlichen, die selbst bei schlechten

Nachrichten anfragten, wo noch weitere Hilfe benö-

tigt werde. Ebenso die Stadtverwaltung mit einem

hochengagierten Ausländerbeauftragten und unser

Landrat, der sich nie von Populisten schrecken

ließ, sondern unbeirrt mit seiner Behörde die

Erstaufnahme-Einrichtung förderte.

Auch heute, bei „nur“ noch 500 Men-

schen, die bei uns untergebracht sind, er-

fahren wir Unterstützung. Die Schwie-

rigkeit ist nicht mehr die große Zahl an Menschen, die

wir zu versorgen haben. Bei einer Verweildauer von

bis zu sechs Monaten gibt es andere Probleme. Die Eu-

phorie, am Ziel, im sicheren Deutschland angelangt

zu sein, weicht schnell der bangen Frage, wie sich die

Zukunft nun gestalten wird. Die Realität einer manch-

mal erbarmungslosen Leistungsgesellschaft liegt offen

vor den Menschen. Es wird deutlich, wie schwierig und

langwierig erhoffte Familienzusammenführungen sind.

Nicht zuletzt stürzen auf der Flucht erlittene, teilweise

schwerste Traumata unsere Gäste in tiefe Hoffnungslo-

sigkeit. Aufgefangen werden sie von Menschen unserer

Stadt.

Diese Herausforderungen haben unsere kleine Stadt

zu einer Größe heranwachsen lassen, die so keiner er-

wartet hätte: eine soziale – und in unserem Falle auch

christliche – Fundierung von Menschen und Organisa-

tionen nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch über

lange Zeit im Alltag erlebbar. Die Menschen suchen

nicht bei schönem Wetter ein bisschen Ablenkung vom

Alltag, sondern geben den Heimatlosen auch im Gegen-

wind von Rechtspopulisten zumindest für eine gewisse

Zeit das Gefühl einer neuen Heimat. Dies ist harte Ar-

beit mit täglich vielen Problemen, die es zu lösen gilt. Es

gibt nicht nur Unterstützer, sondern ebenso hartnäckige

Gegner dieser Einrichtung. Aber unsere Stadt ist an die-

ser gewaltigen Aufgabe gewachsen. Und beweist echte

Größe.

Berthold Weiß

Denkanstoß

Eine Stadt

zeigt Haltung

Berthold Weiß,

54, ist Leiter

der Landeserstaufnahme-

einrichtung Ellwangen im

baden-württembergischen

Ostalbkreis und Mitglied des

örtlichen Gemeinderats für

„Bündnis 90/DIE GRÜNEN“.

Beiträge in der Rubrik „Denkanstoß“ geben nicht zwangsläufig

die Meinung der Redaktion wieder.

Foto: Privat, Illustration: Karo Rigaud

23

Unter Freunden

johanniter 3/2017