

Als ich mich für polnische Pflegekräfte in deutschen
Familien zu interessieren begann, befand ich mich in
einer besonderen Lebenssituation: Mein Mann und ich
waren im Begriff, unseren Sohn zu adoptieren. Während
wir durch einen Verwaltungsakt zur Familie wurden,
konnte ich eine Zeit lang ungewöhnlich nüchtern auf
die Konstruktion Familie schauen: Auf welche Kräfte
gründet sich die Bereitschaft, füreinander da zu sein?
Vor diesem Hintergrund entstand mein Film „Family
Business“.
Darin begleite ich zwei Familien, eine deutsche und
eine polnische. Sie begegnen sich, als die Töchter der
88-jährigen Anne begrei-
fen, dass diese nicht mehr
allein leben kann. Aber auch
die Familie von Jowita, der
künftigen Pflegerin Annes,
hat ein drängendes Problem:
Sie wohnt seit Jahren in ei-
nem halb fertigen Haus und
braucht Geld, um es zu Ende
zu bauen. Vermittelt durch
eine Agentur und ohne sich
je zuvor vorher gesehen zu
haben, verabreden die bei-
den Familien, ihre Probleme
gemeinsam zu lösen.
Schaffen sie das auch?
Und ist es zu beiderseitigem
Gewinn? Diesen Fragen geht
mein Film ernsthaft nach – ohne sie zu beantworten.
Stattdessen haben wir genau hingeschaut und den All-
tag begleitet: Was dürfen Jowita und Anne voneinander
erwarten? Welche Formen nehmen Kritik und Anteil-
nahme in einer so intimen Beziehung an, wenn sie eine
bezahlte Dienstleistung ist? Welchen Einfluss hat etwa
der hartnäckige Kampf um die Deutungshoheit in der
Küche auf das Zusammenleben? Welche Rolle spielen
Gewöhnung, Professionalisierung und Einsicht auf bei-
den Seiten? In dieser Situation, in der sich zwei Famili-
en rund um einen pflegebedürftigen Menschen herum
organisieren, sehen wir plötzlich alle Beziehungen dop-
pelt: Mutter–Tochter, Familie–Zuhause usw. Die beiden
Familien spiegeln sich ineinander und lassen Fragen
nach unserer eigenen Situation zu.
Wie wollen wir in Zukunft füreinander da sein? Wel-
chen Einfluss haben Arbeitsverhältnisse wie diese auf
die Familien? Da 90 Prozent dieser Pflegearbeit schwarz
verrichtet wird, lässt sich kaum sagen, wie viele Betreue-
rinnen wie Jowita es in deutschen Familien gibt. Schät-
zungen bewegen sich zwischen 200.000 und 600.000.
Vielleicht sind es auch mehr. Aber es sind auf jeden Fall
genug, um zu behaupten, dass diese Konstruktion zu
einem akzeptierten Lösungsmodell für ein gesellschaft-
liches Problem geworden
ist. Nämlich möglichst lan-
ge und bezahlbar selbstbe-
stimmt zu leben.
Auch in Polen hat diese
Arbeit das Bild der Familie
und das Rollenverständnis
verändert: Während zu-
nächst die Männer auf Bau-
stellen und Feldern in ganz
Europa unterwegs waren,
sind es jetzt oft die Frauen,
die mit ihrer Pflegearbeit den
Familienunterhalt sichern. In
Polen werden sie dafür als
Retterinnen des deutschen
Gesundheitssystems gefeiert.
Die Perspektive der Frauen
wahrzunehmen, die unsere Eltern pflegen, und sie in
unsere Entscheidungen einzubeziehen, ist notwendig,
damit dieses „Family Business“ gelingen kann.
Christiane Büchner
Denkanstoß
Handelsware
Familie
Christiane Büchner,
52, ist
Filmemacherin in Köln und
thematisiert in ihrem Doku-
mentarfilm „Family Business“
die ökonomischen Zusam-
menhänge von Pflege und
Familienbeziehungen.
Illustration: Karo Rigaud
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der Redaktion wieder.
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